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Rausgepickt / SatzSchätze Apr '12

"Masserberg" v. Else Buschheuer

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>Ein siamesischer Zwilling hätte kaum mehr Aufmerksamkeit erregt: links Augenklappe, rechts falsche Wimpern, links Ohrenverband, rechts Kreole, Wangen und Kinn voller Teersalbe. Der Arm im Verband, aber an den Fingern grüne Krallen. Mel war eine Erscheinung. Das Produkt eines modernen Doktor Frankenstein. Den Morgenrock kombinierte sie mit schillernd bunten Strümpfen. Moschusschwaden aus dem Intershop umzügelten sie, mischten sich in den aseptischen Geruch von Haus IV, betörend und abstoßend zugleich. Ihr Lachen hallte durch die Gänge, mal bollernd, mal schrill, immer unpassend und in jedem Fall zu laut.<
(Zitat S. 8/9)

>Das wirklich Demütigende war die Hilflosigkeit, im Speziellen und im Allgemeinen. Die Zukunft war ungewiss, die Gegenwart unerträglich. Kneift mich, damit ich aus dem Alptraum erwache! Aber keiner kniff sie. Inzwischen war Mel im Alptraum heimisch geworden. Einmal Lebenserfahrung bitte! Intravenös oder subkutan? Darf's noch eine Prise Zynismus sein? Intramuskulär? Retrobulbär?<
(Zitat S. 17)

>Masserberg wurde ein Zustand. Sogar der täglichen Augenspritze haftete etwas Rituelles an. Die Zeit verlor das Maß: Minuten, Stunden, Tage. Mel hörte auf, sie zu benennen. Fast alle waren gleich. Der Montag war wie der Dienstag, Der Dienstag war wie der Mittwoch.<
(Zitat S. 27)

>Alle deckten Mel, ja, sie warnten sie sogar, wenn der Kontrollposten nahte. Oft wurde ihre Abwesenheit kaschiert, wenn sie sich nachts unerlaubt aus dem Hause stahl. Im Gegenzug musste sie sich mit schweinischen Witzen freikaufen, abends, wenn es dunkel war und man nicht orten konnte, in welchem Bett verschämt gekichert oder "Mehr!" gerufen wurde.
"Du bist unser Jungbrunnen!", war das höchste Kompliment der Greisinnen, und obwohl Mel diese Verantwortung im Grunde zu groß war, kam sie ihrer Funktion als Jungbrunnen nach, sooft sie konnte. Die Alten liebten sie. Mel war all das, was sie niemals waren.<
(Zitat S. 31)

>"Wo bitte ist hier das Klosettchen?", fragte lächelnd die Neue statt eines Grußes und hatte ihren Namen weg. Dann schob sie demonstrativ ein flottes Transistorgerät auf den Tisch und stellte "Radio DDR" ein.
Mels schlechte Laune wies ihr den Weg: "Da, wo die Fliegen sind!"<
(Zitat S. 63)

>Jetzt war es still bis auf ein Schluchzen. Das Krankenhaus war ein Tothaus geworden. Erst allmählich wurde Mel bewusst, dass es sie selbst war, die weinte. Sie weinte um Queen Mum, sie weinte, weil sie allein war auf der Welt, weil sie nicht blind werden wollte, weil sie keine Kraft mehr hatte. Sie war plötzlich erfüllt von der Angst, zu sterben, ohne je die Liebe kennengelernt zu haben. Es war. als hätte jemand den Stöpsel rausgezogen. Nichts war einer Suche wert. Alles war Lüge. Das Uhrglas beschlug innen, wurde feucht, schließlich nass. Der zynische Wunsch des Marxisten-Leninisten nach Tränenflüssigkeit erfüllte sich zum zweiten Mal binnen kurzer Zeit.<
(Zitat S. 71)

>Tagebuch    Masserberg, 4. Juni 1984
Will ich ihn?
Will ich ihn nur, weil er mich nicht will?
Will er mich wirklich nicht?
Wollte ich ihn, wollte er mich?
Will ich ihn nur, falls er mich nicht will?
Hält der Zauber nur, bis ich ihn benennen, bis er ihm erliegt?
An manchen Tagen ist das Hirn so scharfkantig, dass es innen an der Schädeldecke kratzt. Schmisse. Inwendige Schmisse. Schmerzen. Irrsinnige Schmerzen. Olivgrüne Schmerzen. Quell des Übels ist nicht das Auge. Quell des Übels ist Sanchez.<
(Zitat S. 111/112)

>Natürlich könnte er die Wahrheit sagen. Er könnte Tinka sagen, dass er Mel begehrte. Er könnte Mel sagen, dass er mit Tinka lebte. Er verlangsamte den Schritt und fand für den Bruchteil einer Sekunde Gefallen an dieser Idee. Ja! Genau! Er würde alles sagen, sich Tinka gegenüber enttarnen als verliebter Trottel, Mel gegenüber als De-facto-Ehemann einer anderen, als werdender Vater, beiden als Stasi-Spitzel. Ja, heute würde er alles bekennen, reinen Tisch machen. Er würde Tinka verlassen. Er würde Tinka verlassen, schwanger oder nicht, und mit Mel ein ganz neues, aufregendes Leben beginnen. Nur sie zwei. Wie im Märchen. Lolita und IM Skalpell. Der Mut rieselte ihm in Körnern durch die Adern. Doch dann verklumpte er und schmolz.<
(Zitat S. 142/143)